19-jährige Fabiene Wengert als „Mutter des Camps“
@ Lothar Rühl Wetzlar
Wetzlar (lr). „Das 1. bundesweite Camp war für uns Tourette-Kranke anstrengend, aber auch sehr schön. Beim nächsten Mal bin ich wieder dabei“, so die 19-jahrige Jana Sasse. Viele Stunden lang haben ihre Tics sie in Atem gehalten. Aber sie nimmt viele schöne Erinnerungen mit nach Aachen, wo sie Ingenieurwesen studiert. Zum ersten Mal hat sie hier David Römermann aus München getroffen, mit dem sie schon länger übers Internet Kontakt pflegt. „Das Camp hat mein Selbstbewusstsein gestärkt“, sagte nicht nur Jana Sasse, die seit vier Jahren an den Ticks leidet. In der Schulzeit waren die Zwänge noch nicht so ausgeprägt. Erst in den letzten Jahren hat sich die Krankheit stärker entwickelt. So fällt Jana Sasse in einem Raum schnell auf, sagt sie doch ständig „eieiei“ und schlägt sich auf die Brust. Sie wünscht sich, dass es in der Gesellschaft ankommt, dass die Erkrankten ganz normale Jobs übernehmen können.
Zum ersten Mal gab es das bundesweite Tourette-Camp mit bis zu 120 Besuchern. Untergebracht waren die 60 Dauerteilnehmer in der Wetzlarer Jugendherberge. Deren Leiter Heinz Hönig sagte, die Tourette-Kranken hätten keine Probleme bereitet. Im Vorfeld hat Hönig die anderen Gäste der Jugendherberge über die besonderen Besucher informiert, ihnen erklärt, dass Tourette-Erkrankte die sogenannten Tics haben, manchmal Schimpfworte ausstoßen oder andere Zwänge haben.
Die Idee zu diesem Camp hatte die 19-jährige Wetzlarerin Fabiene Wengert. Vor zwei Jahren bekam sie Tourette und musste die Schule verlassen. Weil sie keine berufliche Perspektive hat, wendet sie ihre Energie für Selbsthilfegruppen auf. Das Camp hatte sie nahezu alleine aus dem Boden gestampft. Dafür erhielt sie zahlreiches Lob.
Der CDU-Landtagsabgeordnete Hans-Jürgen Irmer sagte, es sei großartig, was Fabiene in jungen Jahren hier geleistet habe. Werner Görg vom Vorstand des Interessenverbandes Tic & Tourette Syndrom e. V. (IVTS) sagte, Fabiene Wengert sei war erst 19 Jahre, aber die „Mutter des Camps“. Viele ehrenamtliche Helfer hatten mitgeholfen, damit das Treffen ein Erfolg werden konnte.
Drei Tage lang waren Tourette-Erkrankte und ihre Angehörigen nach Wetzlar gekommen, um sich zu begegnen, mehr über ihre Krankheit zu erfahren und gemeinsam Spaß zu haben.
Wie das Camp bei den Teilnehmern angekommen ist, auf diese Frage sagte Fabiene Wengert, „das sehen Sie doch in den Gesichtern der Besucher“. Es sei ein Erfolg, dass die Tourette-Kranken gemeinsam Spaß hatten, neue Freunde gefunden haben. Die größte Belohnung für ihre Mühe sei, dass die Teilnehmer glücklich nach Hause fahren. Gerne würde sie ein weiteres Camp organisieren.
Die Schirmherrschaft hatten Bürgermeister Manfred Wagner (SPD) und der hessische Sozial-Staatssekretär Wolfgang Dippel (CDU) übernommen. An einem Empfang nahmen Irmer und Stadtrat Norbert Kortlüke (Grüne) teil.
Dabei forderte Görg ein stärkeres Verständnis für Tourette-Erkrankte in der Öffentlichkeit. Viele Schwerstbetroffene könnten nur mit Cannabis-Produkten zeitweise zur Ruhe kommen. Deshalb solle die Politik Cannabis für eine einfache Verabreichung frei geben. Görg wies darauf hin, dass es in Deutschland rund 1,5 Millionen Betroffene gebe, wenn man die Leute mit leichten Tics mit einrechne. In seinem Verband IVTS sind etwa 230 zusammengeschlossen. Meist tritt diese neurologisch-psychiatrische Erkrankung in der Jugendzeit auf. In 70 Prozent der Fälle lege sich die Krankheit wieder. Aber sie könne auch bleiben oder sich gar verstärken.
Werner Görg, dessen Sohn vor zehn Jahren erkrankte, als er das Gymnasium besuchte, sagte, Tourette-Erkrankte seien meist genauso gescheit wie ihre Mitschüler, oftmals schlauer als der Durchschnitt. Trete die Krankheit auf, gäbe es Probleme in der Schule. Wenn die Betroffenen in die Sonderschule für geistig Behinderte kämen, seien sie unterfordert. Hier zeige sich, ob eine Schule nur den Regelbetrieb gestalte oder sich engagiert für die Erkrankten einsetze. Eine Lösung seien Förderprogramme und den Nachteilsausgleich anzuwenden. Die Betroffenen seien sehr belastet und manchmal auch selbstmordgefährdet.
Die Ärztin Dr. Jessika Weiß von der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie der Universitätsklinikum Carl Gustav Carus (Dresden) bestätigte in einem Vortrag, dass die meisten Erkrankungen im Alter zwischen sieben und 12 Jahren auftreten. Die Tics („nervöse Zuckungen“) könnten sich verändern hinsichtlich der Art, Intensität, Häufigkeit und Lokalisation. Sie wies darauf hin, dass es sowohl motorische Tics, also Störungen der Muskeln, und vokale Tics mit der Stimme gebe.
Von solchen Störungen ist auch der 26-jährige Ansgar Sebastian Pötsch aus Düsseldorf betroffen. Die Ärzte behandeln ihn mit einer Ritalintherapie.
Benjamin Jürgens aus Frankfurt hat Tourette seit Kinderbeinen an. Aber in den letzten Jahren ist die Erkrankung bei dem 34-Jährigen heftiger geworden. Früher war er in der Behindertenbetreuung tätig. Heute arbeitet er in der Altenpflege. Sein Arbeitgeber zeigt dafür Verständnis, dass er ab und zu eine Auszeit braucht, um dann wieder seinen Dienst fortzuführen.
Jürgens war einer der Akteure bei der Talentshow während des Camps. Als er zu seiner Gitarre griff und seine selbstgeschriebenen Lieder vortrug, waren die Tics für einige Momente vergessen. Der Frankfurter stellte gemeinsam mit Fabiene Wengert das Camplied vor, das „Immer wenn du austicst“ hieß.
Wengert hatte die Gießen Skyliners für die Organisation eines Fußballturniers auf dem Sportplatz des Spartak Wetzlar gewonnen. Insgesamt acht Teams traten gegeneinander an. Die Martin-Buber-Schule für praktisch Bildbare stellte zwei Mannschaften. Auch die Campteilnehmer hatten zwei Teams zusammengestellt, die Mannschaft „No limits“ und die „Hyperaktiven“. Auch die Mädchenmannschaft der SG Kinzenbach war gekommen, in der Fabiene Wengert vor ihrer Krankheit spielte. Weitere Teams waren die Tasmanier und „Solms United“. Letztere konnten das Turnier für sich gewinnen. Zweite wurden die Gießen Skyliners. Platz drei ging an die SG Kinzenheim.
Zum Programm des Camps gehörten auch eine Stadtführung, der Besuch des Europabades und des Kletterwaldes.