Die Erklärung grundlegender Mechanismen des Tourette-Syndroms wird durch entwicklungsorientierte Aspekte der Krankheit erschwert. Bekanntermaßen zeigt das TS einen entwicklungsbedingten Verlauf: Es setzt in der Regel im Alter zwischen 4-6 Jahren ein mit maximaler Tic-Schwere im Alter von 10-12 Jahren und einer Abnahme der Schwere nach der Pubertät.
Was während der Pubertät im Gehirn passiert, ist noch nicht klar, doch es scheint, dass ein Prozess stattfindet, der die Tics eher kontrollierbar macht und der Pubertierenden eine größere Kontrolle über ihre bewussten Bewegungen ermöglicht. Das ist offensichtlich die Ursache dafür, dass die Mehrzahl an TS-Betroffenen im Erwachsenenalter weniger Symptome des TS spüren, auch wenn es immer noch einige erwachsene TS-Patienten gibt, bei denen die Tics unverändert nach der Pubertät fortbestehen oder sich sogar noch verschlimmern.
Doch was passiert während der Entwicklung im Gehirn? TS hängt mit Veränderungen im Entwicklungsprozess bestimmter Netzwerke des Gehirns zusammen, die zu neuronalen Schaltkreisen mit nicht ausgewogenen anregenden und hemmenden Einflüssen führen. Was bedeutet das? Im Gehirn formen Bereiche wie Cortex, Striatum, Globus pallidus, Substantia nigra und Thalamus den sogenannten cortico-striatal-thalamo-corticalen (CSTC) Kreis. Für Tics gilt, dass eine Störung im motorischen Regelkreis vorliegt. Während eines Tics werden offensichtlich Neuronen des Striatums aktiv, es kommt zu einer „Enthemmung“ des thalamocortikalen Kreises und einer Übererregbarkeit motorischer Regionen des Gehirns.
Man geht davon aus, dass die zunehmende Fähigkeit zur Kontrolle von Tics nach der Pubertät durch kompensatorische Mechanismen ermöglicht wird, die auf einer gesteigerten Hemmung und der Fähigkeit zur Kontrolle motorischer Outputs basieren. Eine wichtige Rolle bei neuronaler bedingter Hemmung spielt die Gamma-Aminobuttersäure (GABA), die immer mehr auch im Zusammenhang mit TS erwähnt wird. Postmortale Untersuchungen zeigen bei Patienten mit TS tatsächlich eine verminderte Zahl an GABA Interneuronen und GABA-Rezeptoren, was zu der Hypothese führt, dass eine verminderte Gaba-bedingte Hemmung bei TS-Patienten die Ursache für Tics sein könnten.
So postulieren Draper et al. eine neue Hypothese zur verbesserten Tic-Kontrolle nach der Pubertät. Sie gehen davon aus, dass eine lokalisierte gesteigerte Inhibition innerhalb von Neuronen auf einer extrazellularen GABA-Konzentration beruht, die die Erregbarkeit im sensomotorischen Bereich (SMA) reduziert. Um dieser Hypothese nachzugehen untersuchten sie die GABA-Konzentration in primären und sekundären motorischen Bereichen von 15 heranwachsenden TS-Patienten und einer hinsichtlich Alter und Geschlecht gemischten Kontrollgruppe.
Die Untersuchungen wurden mittels 7T Magnetresonanzspektroskopie durchgeführt, einem Verfahren, dass die Bestimmung verschiedener Verbindungen und Metaboliten im Gewebe und deren Abbaurate ermöglicht. Um die Zielbereiche im Gehirn zu lokalisieren, mussten die Probanden einfache motorische Bewegungen mit den Fingern durchführen, bis sie den Befehl aufzuhören erhielten. Es konnte gezeigt werden, dass Heranwachsende mit TS im SMA signifikant erhöhte GABA-Werte aufwiesen, nicht aber in den anderen zwei Regionen. Dabei korrelierten die GABA-Gehalte innerhalb des SMA mit der Tic-Schwere. Diese Erkenntnis könnte zu einem verbesserten Verständnis beitragen, wie begrenzte Veränderungen in der Hirnfunktion während der Pubertät eine Schlüsselrolle bei der Steuerung von Symptomen bei bestimmten neurologischen Erkrankungen spielen können.