Risiken und Nutzen von Psychopharmaka bei Kindern und Jugendlichen

Auf dem 21. Kongress der ECNP 2008 in Barcelona, präsentiert Dr. Celso Arango, ein spanischer Psychiater die neuesten Ergebnisse seiner Forschungsgruppe zu Nutzen und Risiken einer Medikation mit Psychopharmaka bei Kindern und Jugendlichen sowie deren Auswirkungen auf das Wohlbefinden, das Funktionieren im sozialen, häuslichen und beruflichen Bereich sowie die Belastung durch die Krankheit bei Individuen.
Außerdem deutet er auf die Herausforderungen hin, die eine Therapie von Kindern und Jugendlichen mit Psychopharmaka für den Kliniker bedeutet und diskutiert die Erfordernisse für einen Beginn einer Therapie mit Psychopharmaka in der klinischen Praxis.

Viele der psychiatrischen Erkrankungen, die man bei Erwachsenen beobachtet, haben ihren Ursprung in der Kindheit oder Adoleszenz. Tatsächlich zeigen einige Studien, dass wenigstens 20 % der Kinder und Jugendlichen das diagnostische Kriterium für eine mentale Erkrankung erfüllen, bevor sie das Erwachsenenalter erreicht haben. Das Auftreten einer bedeutenden Geisteskrankheit bei Kindern ist sicherlich nicht weniger Ernst als bei Erwachsenen. Tatsächlich deutet der Beginn verschiedener psychiatrischer Erkrankungen im Kindesalter oft auf einen schlimmeren Krankheitsverlauf hin.

Eine frühzeitige Manifestation von mental-psychischen Störungen kann substanzielle Auswirkungen auf die schulische Leistungsfähigkeit des Kindes und seine Fähigkeit altersgerechte soziale Fähigkeiten zu entwickeln haben. Daher ist eine angemessene Diagnose und Therapie von Anzeichen und Symptomen psychiatrischer Erkrankungen während der Kindheit und Adoleszenz für eine Minimierung fortlaufender oder zusätzlicher psychiatrischer Probleme, die diese Kinder später im Leben Risiken aussetzen, von großer Bedeutung.

Viele Jahre lang wurden alte Psychopharmaka zur Therapie von Verhaltensstörungen, Tourette-Syndrom, bipolaren Störungen und Schizophrenie bei Kindern und Jugendlichen verwendet. Neuere Therapien, insbesondere die Einführung einer neuen Generation von Psychopharmaka haben zu zahlreichen Erwartungen in die Suche nach klinisch wirksamen Langzeit-Therapien für diese junge Patientenpopulation geführt. Die Verschreibung von Psychopharmaka der neuen Generation wurde zu einer weit verbreiteten Praxis bei Kindern und Jugendlichen mit Psychosen (Armenteros & David, 2006) und zahlreichen anderen psychiatrischen Störungen (Findling et al., 2005; Olfson et al., 2006). Tatsächlich hat die Verschreibung der neuen Psychopharmaka in der Pädiatrie in den letzten Jahren dramatisch zugenommen (160% in den USA zwischen 1990 und 2000) (Patel et al., 2005).

Wenig gut kontrollierte Studien haben die Wirksamkeit, Sicherheit und Tolerierbarkeit von Psychopharmaka in Kindern und Jugendlichen untersucht. (Arango et al. 2004; Kumra et al. 2007). Im Kontext der Autoren sind Risperdal, Quetiapin und Olanzapin die am häufigsten verschriebenen Medikamente bei dieser Patienten-Population. (Castro-Fornieles et al., in Druck). Erst vor kurzem zielte das neue EC Medizinprodukte-Gesetz auf eine verbesserte Information für verschreibende Ärzte und Familien, um die Pharmaindustrie zu zwingen, klinische Studien mit dieser Patienten-Population durchzuführen, um eine sogenannte Off-Label-Anwendung (nicht nachgewiesene Wirksamkeit) zu reduzieren.

Klinische Studien zu Psychopharmaka konzentrieren sich traditionell auf die akute klinische Wirksamkeit und Tolerierbarkeit. Pharmakologische Eingriffe bei Kindern und Jugendlichen mit mentalen Störungen sollten jedoch breitere Anforderungen in bezug auf klinische Wirksamkeit erfüllen, um das best mögliche Ergebnis im Hinblick auf Wohlbefinden, das Funktionieren im sozialen, häuslichen und beruflichen Bereich sowie die Belastung durch die Krankheit zu erzielen. Sie müssen außerdem Sicherheitsaspekte über lange Zeiten berücksichtigen sowie die mögliche Wechselwirkung des Medikaments mit einem sich entwickelnden Gehirn berücksichtigen. Entwicklungsbedingte Veränderungen während der Kindheit und Adoleszenz können sowohl die Reaktion auf die Therapie als auch die Tolerierbarkeit des Medikamentes in einer Weise beeinflussen, wie man sie von Erwachsenen her nicht kennt. Es ist ferner möglich, dass die Therapie die kognitive Entwicklung negativ beeinflusst und somit funktionelle Probleme hervorruft und die klinische Effektivität erschwert. Auf der anderen Seite kann ein frühes Eingreifen mit einem wirksamen und gut vertragenem Psychopharmakon einen Nutzen bewirken, der bei einigen mentalen Störungen der Pädiatrie den aktuellen Verlauf positiv beeinflusst. (Arango et al., 2004).

Wirksamkeit
Psychopharmaka haben sich für die Therapie psychotischer Erkrankungen (Schizophrenie, bipolare Störung) bei Kindern und Jugendlichen als wirksam erwiesen aber auch bei Erkrankungen wie dem Tourette-Syndrom oder Tics. (Jensen et al., 2007; Kumra et al., 2008; Findling et al., 2008). In der ersten Studie, die 3 unterschiedliche Psychopharmaka der zweiten Generation (SGAs) an 110 Patienten mit früh einsetzenden Psychosen (mittleres Alter 15,5 Jahre) miteinander vergleicht, konnten keine signifikanten Unterschiede bezüglich der Reduktion von Symptom-Skalenwerten bei Patienten, die über 6 Monate mit Risperdal, Quetiapin oder Olanzapin behandelt wurden, beobachtet werden (Castro-Fornieles et al., in press).

Metabolische und hormonelle Sicherheit
Übergewicht bei Kindern nimmt weltweit immer mehr zu und bedingt die Zunahme kardiovaskulärer Risikofaktoren bei Kindern wie Dyslipidemie, Bluthochdruck und gestörte Glucosetoleranz (Weiss et al., 2004). Zusätzlich gibt es wachsende Bedenken bezüglich der Psychopharmaka der zweiten Generation, die metabolische Nebenwirkungen wie Gewichtszunahme, Hyperglycaemie und Dyslipidämie in Kindern haben sollen (Correll, 2008).

In einer ersten Studie, die direkt die Gewichtszunahme und andere metabolische und hormonelle Risikofaktoren nach Behandlung mit 3 unterschiedlichen Psychopharmaka der 2. Generation in Kindern und Jugendlichen (mittleres Alter 15,2 Jahre) vergleicht, konnte gezeigt werden, dass, nach 6 Monaten der Body-Maß-Index und der Wert für Gesamt-Cholesterin signifikant anstieg. 33 Patienten (50%) ohne vorherige Psychopharmaka-Therapie zeigten eine signifikante (Fraguas et al., in Druck) Gewichtszunahme. Die Anzahl an Patienten mit einem Risiko für Nebenwirkungen stieg von 11 (16.7%) auf 25 (37.9%). Diese Veränderungen der metabolischen Parameter unterschieden sich zwischen den einzelnen untersuchten Psychopharmaka.

In der naturgetreuen Studie, die von dem Autor und seinen Mitarbeitern an Psychose-Patienten mit einem frühen Einsetzen der Krankheit durchgeführt wurde, war die Gewichtszunahme im Falle von Olanzapin größer als im Falle von Risperdal oder Quertiapin (Castro-Fornieles et al., in Druck). Eine Gewichtszunahme bei Kindern lässt die Bedenken aufkommen, dass diese Patienten, sofern sie über einen längeren Zeitraum behandelt werden, in der Zukunft einem höheren Risiko für Insulin-Resistenz, Diabetes, Bluthochdruck und kardiovaskuläre Erkrankungen ausgesetzt sind. Wenn Arzneimittel, die zu einer Gewichtszunahme führen, verwendet werden müssen, sollten kompensatorische pharmakologische oder Verhaltens-Ansätze angewendet werden. (Laita et al. 2007; Correll, 2007). Weitere Bedenken, bei Kindern, die mit Psychopharmaka behandelt werden, bestehen hinsichtlich der Hyperprolactinämie, die durch verschieden dieser Psychopharmaka verursacht wird und die daraus resultierenden Langzeitfolgen (Osteoporose, Infertilität). In der Querschnittsstudie des Autors mit 66 Kindern, zeigte sich eine Hyperprolaktinämie bei 78.6% und 48.5% in der Kurzzeit- und Langzeit-Therapiegruppe.

Abnormale unfreiwillige Bewegungen
Das Vorkommen extrapyramidaler Symptome (EPS), d.h. Anomalien im motorischen System sekundär nach Einnahme von Psychopharmaka sind bei jungen Patienten bekannterweise häufiger als bei Erwachsenen (Findling, 2001). Diese Nebenwirkungen. die häufiger bei den „alten“ Psychopharmaka zu finden als bei den neuen, führen zu Schwierigkeiten in Bezug auf die Teilnahme an normalen erzieherischen und sozialen Aktivitäten.

In einer Querschnittstudie wurde das Vorhandensein anomaler unfreiwilliger Bewegungen in 60 Kindern und Jugendlichen, die Psychopharmaka für weniger als 1 Woche genommen hatten und solchen, die sie für mehr als 12 Monate genommen hatten (n=66) verglichen (Laita et al., 2007). Das mittlere Alter der Probanden lag bei 15.62 Jahren. 21,7 % der Teilnehmer aus der Kurzzeit-Therapie-Gruppe und 37,9% der Patienten aus der Langzeit-Therapie-Gruppe zeigten leichte dyskinetische Bewegungen. In einer früheren Studie zeigten 110 Patienten mit früh einsetzender Psychose, die über 1 Jahr beobachtet wurden, dass die neurologischen Nebenwirkungen (speziell Hypokinesien und Akinesien) häufiger im Falle einer Behandlung mit Risperdal vorkamen (Castro-Fornieles et al., in Druck).

Kardiovaskuläre Sicherheit
Medikationen mit Psychopharmaka zählen zu den bekanntesten Risikofaktoren im Zusammenhang mit signifikant verlängerten QTc-Intervallen (EKG). Bei Heranwachsenden ohne frühere Einnahme von Psychopharmaka (höchstens für weniger als 30 Tage im gesamten leben) wurden Veränderungen der Dauer des QTc-Intervals vor und 6 Monate nach einer Psychopharmaka-Therapie bewertet. Es zeigten sich keine kardiovaskulären Veränderungen in der untersuchten Population (Castro et al., in press).

Was wissen wir?

  • Ein frühes Eingreifen mit wirksamen gut tolerierbaren Psychopharmaka bewirkt bei einigen Erkrankungen in Kindern und Jugendlichen eine Besserung der Symptome, die den aktuellen Verlauf der Krankheit beeinflussen
  • Kinder und Jugendliche scheinen ein höheres Risiko für Nebenwirkungen wie extrapyramidale Symptome, Zunahme der Prolaktinwerte, Sedierung, Gewichtszunahme und metabolische Effekte als Erwachsenen zu haben, wenn sie Psychopharmaka einnehmen.
  • Patienten und ihre Familien sollten in eine sorgfältige Risiko-Nutzen-Analyse einbezogen werden, bevor eine Verschreibung von Psychopharmaka erfolgt.

Was müssen wir wissen?

  • Es besteht ein Bedarf für kontrollierte Studien für den Fall, dass Krankheiten mit Psychopharmaka behandelt werden, ohne dass deren Wirksamkeit klinisch bewiesen wurde.
  • Daten zur Langzeit und Kurzzeit-Sicherheit von Therapien im Hinblick auf kardiovaskuläre Risiken, hormonelle und metabolische Sicherheit, Geschlechtsreife, Fertilität und Wachstumsveränderungen sind dringend erforderlich.
  • Man benötigt Daten zur Wechselwirkung zwischen Psychopharmaka und der kognitiven, emotionalen und Verhaltens-Entwicklung bei unterschiedlichen mentalen Erkrankungen.
  • Schließlich benötigt man kontrollierte Studien, die nicht nur die Wirksamkeit bewerten, sondern auch die Auswirkungen der Krankheit und der verschriebenen Arznei auf das individuelle Wohlergehen und das Funktionieren im häuslichen, schulischen und sozialem Bereich sowie die Belastung durch die Krankheit berücksichtigen, um eine vernünftige Risiko-Nutzen Bewertung durchführen zu können.

Quelle:
ScienceDaily (Sep. 3, 2008)